40 Tage Achtsamkeit
Die Deutschen sind gestresst, das zeigen nicht nur Umfragen während der Corona-Pandemie. Bereits zuvor stieg der Anteil an stressbedingten Erkrankungen kontinuierlich an, gefühlt ebenso die Anzahl an Kursen zur Entspannung und Stressbewältigung.
Eine Möglichkeit, dem Stress die Stirn zu bieten, ist „Mindfulness-Based Stress Reduction“ (MBSR), zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Dieses Programm wurde Ende der 70er Jahre vom amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt und enthält verschiedene Elemente wie die achtsame Körperwahrnehmung (Body-Scan), Yoga-Übungen, Meditationen und weiteres.
Doch Achtsamkeit ist keine Erfindung der Neuzeit. Eine viel ältere Praxis der Achtsamkeit ist unter der Bezeichnung „Kontemplation“ zusammengefasst, was so viel bedeutet wie „konzentriertes Betrachten“. Bereits die Philosophen in der Antike arbeiteten erste Kontemplationskonzepte aus, aber auch in verschiedenen Religionen wie dem Christentum finden sich entsprechende Praktiken.
„Wenn ich achtsam bin, richte ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Umgang mit den Dingen, mir selbst, den anderen Menschen und schließlich – wenn ich das will –, auf meinen Umgang mit Gott oder dem Göttlichen“, erklärt Anne Hartmann ihre Sicht auf die Achtsamkeit. Die 44-jährige Theologin und angehende Analytische Psychologin ist Leiterin des Bereichs Seelsorge und Psychologie an der Malteser Klinik von Weckbecker in Bad Brückenau. Seit neun Jahren gibt sie dort einmal wöchentlich Achtsamkeitskurse und leitet außerhalb der Corona-Pandemie noch viele weitere Veranstaltungen rund um die Achtsamkeit, unter anderem für die Stadt Bad Brückenau.
Achtsamer Umgang sei mit allem möglich, zum Beispiel mit dem Essen, der Arbeit, dem eigenen Körper oder den Gedanken. „Der Unterschied zu dem, was wir normalerweise tun, ist: Es kommt nicht darauf an, welches Ding ich benutze, sondern wie ich es benutze“, so Hartmann.
Dieses „Wie“ kann eine Wende in den Stresskreislauf bringen, in dem sich viele Menschen befinden. „Wir leben in einer ergebnisorientierten, leistungsbezogenen und sehr schnellen Gesellschaft“, beschreibt die Seelsorgerin ihre Sicht auf die heutige Zeit. In der Arbeitswelt werde immer mehr gefordert. Leistungsstandard, Geschwindigkeit und Druck steigen an. Daraus folge eine ungesunde Entfremdung von den Dingen und sich selbst, schließlich bleibe keine Zeit, um in wirklichen Kontakt zu kommen. Paradoxerweise sei sogar Langeweile eine Folge dieser stressbedingten Entfremdung. Hartmann erklärt das wie folgt: „Wenn ich mit nichts mehr richtig in Kontakt komme, dann berührt mich auch nichts mehr richtig. Ich brauche immer stärkere Reize, um etwas zu empfinden oder ich fange an mich zu langweilen.“
Hier setzt die Achtsamkeit an und diese in den Alltag einzubauen sei fast immer sehr leicht: „Es gibt zahlreiche Möglichkeiten für Einsteiger zu üben“, erklärt Hartmann, schließlich lasse sich jede Handlung mit Achtsamkeit verbinden, vom Atmen über das Duschen bis hin zum Auto fahren. Es gilt, sich Zeit zu nehmen und mit allen Sinnen einen einfachen Vorgang wahrzunehmen. Zum Beispiel den bewussten Griff zur Wasserflasche: Wie sieht die Flasche aus? Wie fühlt sie sich an? Wie gießt man ein, wie sieht das aus und wie hört sich das an? Wie riecht und wie schmeckt das Wasser? „Es kommt nicht auf ein Ergebnis an, sondern nur, einen Vorgang mit Achtsamkeit vollzogen zu haben“, so Hartmann.
Danach könne man prüfen: „Wie war denn das eigentlich?“ und schließlich die Übung wiederholen. Dazu bietet es sich an, sich eine Alltagshandlung auszusuchen und diese eine Woche lang achtsam zu vollziehen. Oder man beginnt, immer wieder mal seine Routine zu unterbrechen, mit der Aufmerksamkeit auf etwas zu gehen und einfach nur wahrzunehmen. Welche Empfindungen dabei aufkommen, spielt keine Rolle, auch diese gilt es einfach nur wahrzunehmen.
Wer sich mit dem Thema Achtsamkeit beschäftigt, trifft über kurz oder lang auch auf das Thema Meditation. Für Anne Hartmann gehört beides zusammen: „Meditation bedeutet für mich, sich für eine bestimmte Zeit still hinzusetzen und die äußeren Reize auf ein Minimum zu reduzieren.“ Dies sei eine gute Aufmerksamkeitsschule und bietet eine sehr gute Unterstützung, wenn es um Achtsamkeit geht.
Text u. Bild: Jessica Rohrbach